Survivor

Wer hätte gedacht, daß wir das noch brauchen?
Keiner.
Gestern habe ich den unentdeckten Notausstieg geöffnet, grelles Tageslicht. Erstmals herrlich frische Luft seit Wochen. Es ist ruhig. Keine Auto, kein Flugzeug, kein Kinderlachen.

Dass unser Haus noch steht war klar, denn fast bis zu letzt funktionierte der Draht nach draussen, das Radio. Zumindest wenn Strom da war. Doch dazu später.

Als hätte ich es geahnt, habe ich im Sommer 2019 dieses Relikt aus den 70ern auf Vordermann bringen lassen.
1972 hatte mein Vater Werner, staatlich gefördert, ein großes Loch im Garten ausheben und einen Atombunker darin versenken lassen.
Einen ASB4. Dabei steht ASB4 für Atomarer Schutzbunker der Typklasse 4.
Drei Räume für maximal 4 Personen.
Drei Meter unter der Grasnabe und vom Hauskeller aus schnell erreichbar. Das ganze Paket inkl. Notausstieg für 90.000 DM bei 60% staatlicher Förderung.
Moskau konnte ja jeden Moment zuschlagen und dann hiess es rein und das Kurbelradio anwerfen um den Nachrichten zu lauschen.

Schneiders nebenan haben damals schon gelacht.
Sie sind längst tot, die Enkel haben das Haus Anfang 2000 übernommen. Wenn ich jetzt hinübersehe, dann wirkt es wie ausgestorben.
Ohnehin, die ganze Strasse scheint ausgestorben. Sieht man von den Hunden ab die in kleinen Rudeln umherziehen.
Die Hunde, da muss ich mir noch etwas einfallen lassen.

Ich gehe zum Haus hinüber und fasse es nicht.
Irgendjemand hat “Arschlöcher” an unsere Fassade gesprüht. Wut steigt in mir auf, ich muss das melden. Irgendwo wird es ja noch Polizei und Recht und Gesetz geben. Aber bis dahin? Ich muss das übermalen.
Ich haste zur Garage – die steht offen. Das Auto ist weg. Die Fahrräder sind weg, selbst unser Bollerwagen. Alles ist verwüstet.
Ich hetze zum Haus zurück. Drücke den Schlüssel ins Schloß, aber die Tür schwingt auf. Ich würde mich setzen wenn es etwas gäbe. Das Haus ist leer geräumt.

Im Keller herrscht noch mehr Chaos. Alles liegt kreuz und quer. Es sieht nach unbändiger Wut aus. Die Stahltür zum Bunkereingang ist zerkratzt, tiefe Beulen im Metall und auch Spuren einer Flex sind zu sehen.
Das war also dieser infernale Lärm der uns Anfangs so zusetzte.
Aber letztendlich hat des Teil gehalten. 1972 gab es eben noch deutsche Qualität fürs Geld.

“Da kommt eine Grippe aus Asien”. Ich war da gleich hellhörig. Während RKI und Gesundheitsministerium noch einen heftigeren Schnupfen erwarteten habe ich gehandelt.

Was wurde ich als Prepper damals insgeheim belächelt.
8000 Liter fasst der Frischwassertank unter dem Bunker. 2000 Dosen Ravioli, 1500 Pack Nudeln, 600 Dosen Corned Beef, 1200 Dosen Früchte, 500 kg Mehl, 100 kg Trockenmilch, 1000 Packungen Hülsenfrüchte usw. usf. Alles gut gelagert in Raum 1. Dazu 200 Dosen Bier und drei Flaschen Faber Sekt, man muß sich auch mal was gönnen.
Brettspiele, Fitnessmatten, ein Trimmrad mit Generator, 6 Autobatterien, 1 Laptop mit Win95, weil es läuft. 100 DVDs mit Filmklassikern wie Sissi, Dallas, Denver Clan oder Magnum. Darunter auch, gut versteckt, drei Filme aus der Josefine Mutzenbacher Reihe. Für die Frau drei große Flaschen Parfum von Douglas.

Eine ganze Woche waren wir auf Einkaufstour. Eine Woche in der die Nachrichten immer dramatischer wurden. Als in Suapeng in China die Leute auf der Strasse hustend zusammenbrachen deckte ich das Auto in der Garage ab, die Frau saugt noch einmal das komplette Haus, selbst unsere beiden Kinder räumten ihre Zimmer auf. Dann machten wir uns auf den Weg in unser neues zu Hause. Mit dem satten Schließen der Bunkertür aus Kruppstahl wussten wir, dass wir in Sicherheit sind.

Ohne Radio hätten wir das nicht überlebt.
Am Anfang war es schwer. Nur drei Räume, statt Tageslicht LED Lampen an der Decke. Sparsam, warmweiß. Disziplin war gefragt und so wurde unser Tagesablauf perfekt durchgeplant.
Zweifel an der Notwendigkeit wurden von den Radiomeldungen hinweggewischt.
Die Bundeswehr hatte offensichtlich 200 Deutsche aus China “evakuiert” und das Virus so nach Berlin eingeschleppt.
Die Folgen waren verheerend. Bereits nach 10 Tagen brach in Berlin die öffentliche Ordnung zusammen. Ein Ring wurde um die Stadt geschlossen.
Die Regierung konnte nicht ausgeflogen werden, da kein Bundesland bereit war sie aufzunehmen.
Wasser und Stromzufuhr in der Hauptstadt waren oft nur über wenige Stunden am Tag aufrecht zu erhalten.
Gebannt saßen wir in diesen Anfangstagen vor unserem Radio.

Der Lärm.
Der Lärm kam nach ca 14 Tagen. Ein Hämmern und Schlagen von Seiten des Bunkerzugangs. Dumpfe Rufe, Heulen, Brüllen. Unmöglich.
Aber was sollten wir machen? Der ASB4 war für 4 Personen zugelassen. Alles andere wäre doch unverantwortlich.
Im Radio wurde verkündet, dass Bayern seine Grenzen mit Fahrzeugsperren, Gräben und Stacheldraht sichert.
Eine Heimatschutzarmee wurde in München eiligst aufgestellt und übernahm die Überwachung. 200.000 Männer und Frauen.
Die Situation klang dramatisch, da selbst die Autobauer die Bänder stoppten.
Bei uns gab es Corned Beef mit Bohnen, was ordentlich auf die Verdauung schlug. Und dazu dieser Lärm. Das ging fast eine Woche.
Eine Woche in der zuerst Italien, dann Frankreich den Notstand ausriefen, das EU Parlament in Brüssel geschlossen in Quarantäne ging und England den Eurotunnel zu schüttete, die Fähr- und Flugverbindungen einstellte und seine Flotte mobilisierte.
Zeitgleich begannen die Gefechte an der bayerischen Grenze. Cattenom war das erste Kernkraftwerk das ausser Kontrolle geriet.
Mit dem GAU verstummte der Lärm, es war herrlich. Wir konnten wieder Alltag leben.
Unvergessen diese Spieltage oder die angeregten Diskussionen über Bobbys Rückkehr auf die Ranch.

Normalität
Wir fügten uns in eine neue Normalität. Der Strom war immer wieder weg, aber dank Batterie und Trimmrad konnten wir die Zeit immer wieder gut überbrücken. Das tat auch der Figur gut.
Dem Radio entnahmen wir, dass in weiten Teilen der westlichen Welt die Wasserversorgung und öffentliche Ordnung zusammengebrochen war.
Unsere 8000 Liter Frischwasser würden für 2 Jahre reichen, die Vorräte ohnehin.
Das Virus mähte sich durch die Städte und Dörfer. Fasziniert lauschten wir bei selbstgebackenem Brot und Dörrfleich einem Beitrag über die Entvölkerung Wuppertals. Berlin gab es nur noch dem Namen nach und Wolfsrudel machten die Ostdeutschen Länder unsicher.

Bayern war gefallen und der Virus hatte sich als wenig christlich und schon gar nicht sozial erwiesen. Der bayerische Ministerpräsident hatte sich zuletzt mit wenigen Getreuen nach Neuschwanstein geflüchtet, aber dort im Schloß wartet bereits das Chinavirus auf ihn.
Das Radio sendete nicht mehr rund um die Uhr. Ständig kamen neue Moderatoren. Ich dachte an die Rundfunkgebühren, die immer noch von meinem Konto abgebucht wurden. Ob wenigstens die Pension noch ordentlich überwiesen wurde?

Wir waren jetzt seit sechs Monaten sicher unter der Erde. Ab und an wurden wir durch ein Schlagen gegen die Bunkertür aufgeschreckt das aber nie lange anhielt.
Aber den 22.09.2020 werde ich nicht vergessen. Gerade als sich Josefine dem Grafen, genau da gab das DVD Laufwerk den Geist auf.
Es folgte eine beklemmende Zeit der Stille. Es war extrem schwer für uns und nur die dürren Meldungen aus dem Radio halfen unserer kleinen Familie darüber hinweg.
Erstmals wurde auch über einen Ausstieg diskutiert.

Hoffnung
Der Gesundheitsminister war jetzt wohl Kanzler sagte das Radio und hatte, dank seiner guten Verbindungen zur Pharma Industrie einen Impfstoff binnen Rekordzeit entwickeln lassen. In kürze sollte mit der Verbliebenenimpfung begonnen werden, so der Kanzler.
Sofort begann im Bunker eine hitzige Diskussion, wie wir als deutsche Familie wohl möglichst schnell an diese Impfung kommen könnten.
Das war eine kurze Flamme der Hoffnung, ich erinnere mich, wir hatten beschlossen die Frau nach draussen zu schicken um das zu regeln.
Aber bereits nach zwei Tagen berichtete das Radio von hochgefährlichen Mutationen. Der Kanzler bat die Leute um Geduld, im Gegenzug wurden die verbliebenen Frisörläden geöffnet.
Jetzt wollte die Frau erst recht nach draussen. Es entspann sich ein hitziger Streit den das Radio letztendlich schlichtete. Es gäbe keine Frisöre mehr, so die Meldung.

60 Wochen
Das Radio ist seit 14 Tagen tot. In der letzten Meldung ging es um irgendwelche Neuwahlen und die Kandidatenauswahl dazu.
Der Strom ist nur noch selten da und die sechs Autobatterien liefern nicht einmal genug Saft für lauwarmes Nudelwasser.
Seit 8 Tagen essen wir kalt. Der Faber Sekt ist vertrunken. Die Bierdosen stehen leer aber unzerdrückt und sauber aufgestapelt in Raum 2. Es ist ja Pfand drauf.
Uns geht es nicht gut. Wir sind der Pandemie müde.
60 Wochen sitzen wir jetzt im ASB4. Die letzten Geräusche der Aussenwelt haben wir vor Monaten vernommen. Ein zaghaftes Klopfen.
Es hilft nichts, jemand muss raus. Die Frau ist immer noch sauer wegen damals, die Kinder zu nix zu gebrauchen, also bleibt es an mir hängen.

Idioten
Die Tür klemmt. Keinen Millimeter lässt sich die Bunkertür bewegen. Sie scheint komplett verklemmt. Ich frage mich was da für Idioten auf der anderen Seite am Werke waren? Welch rohe Gewalt um 25 cm dicke Kruppstahltüren derart zu verbiegen.
Gibt es denn überhaupt keine Mitmenschlichkeit mehr auf dieser Welt? Den Leuten musste doch klar sein, dass hinter dem Stahl Menschen sind. Menschen die Angst haben und überleben wollen. Idioten.
Aber Vater Werner war schlau. Er kannte seine Mitmenschen schon damals. “Egal was passiert, die Schneiders kommen nicht rein” sagte er immer.
Er plante einen perfekt getarnten Notausstieg. Und der war frei.

Grelles Tageslicht
Aber das hatten wir ja schon.
Ich bin jetzt die ganze Siedlung abgelaufen. Die Autos fehlen großteils, in manchen Gärten sind Gräber. Der Supermarkt ist geplündert, der Pfandautomat, ich habe eine Dose mitgenommen, defekt.
Endlich kann ich einmal einen Blick auf das Schwimmbad von Metzgers werfen, das Gartentor ist offen. Hinterm Haus das Becken, naja – so toll ist es auch nicht. Metzgers schwimmen drin. Ich muss mich übergeben.

Dank dem ASB4 scheinen wir die die einzigen verbliebenen Bewohner der Frühlingssiedlung. Dabei war das Viertel mit den vielen Einfamilienhäusern gerade bei gut verdienenden Grünenwählern extrem beliebt.

Verdammt.
Mir wird klar, die Immobilienpreise sind am Boden.
Ich muss husten.